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Gerrit Rietveld (1888-1964)

Entwürfe wie der "Zickzack-Stuhl" und der "Rot-Blaue Stuhl" sind Ikonen der Moderne, doch der Niederländer war weit mehr als Designer der De-Stijl-Bewegung. Als Architekt erfand er das flexible Wohnen und war bereits in den 30ern ein Vordenker des Do-it-yourself-Trends.
Gerrit Rietveld (1888-1964)
© Cassina

Das Jahr 1918 war eine Zeit des Umbruchs: Der Erste Weltkrieg ging zu Ende, Europa öffnete seine Grenzen, die Kunst entdeckte die Neue Sachlichkeit, und die Goldenen Zwanziger standen schon vor der Tür, als ein junger Möbelschreiner in Utrecht mit ein paar Holzlatten und Brettern experimentierte. Sein Ziel: ein neuartiges Sitzmöbel zu konstruieren. Es sollte einfach zu bauen sein, um dem Handwerker Mühen zu ersparen; außerdem sollte es preiswert in der Herstellung sein, denn möglichst viele Leute sollten es sich leisten können.

Der Stuhl, den Gerrit Rietveld entwickelte, wurde nie zum preiswerten Massenprodukt, war noch nicht mal besonders bequem und ist dennoch eine der berühmtesten Design-Ikonen des 20. Jahrhunderts. "Ein Stuhl, der die Formensprache der Architektur für die nächsten 500 Jahre verändern wird", schwärmte der englische Architekt Colin St. John Wilson. 1919 veröffentlichte Rietveld seinen Entwurf, zunächst noch als naturfarbene Version, in der Zeitschrift "DeStijl", die von der gleichnamigen Künstlergruppe um Theo van Doesburg und Piet Mondrian herausgegeben wurde. Deren Grundsatz war, spirituelle Harmonie und Perfektion durch Geometrie und Abstraktion zu erreichen. Rietvelds Lattenstuhl aus 13 Holzleisten und zwei Schichtholzplatten tat genau das. "Mit diesem Stuhl wurde der Versuch unternommen, jedem Teil eine absolut einfache Form zu geben, elementar in seinem Verhältnis zu Funktion und Material", erklärte der Designer selbst sein Werk.

Sitzmöbel als "reiner Ausdruck der Architektur"

Rietveld reduzierte das Sitzmöbel auf Linien und Flächen, die in ihrer Klarheit die Wahrnehmung der räumlichen Umgebung unterstützen, statt den Blick auf sie zu stören. "Es ist der reine Ausdruck von Architektur", sagt Barbara Lehmann, Leiterin der Maestri Collection des Herstellers Cassina, der seit 1973 alle Rietveld-Möbel produziert. "Rietveld hat mit diesem Stuhl eine neue Architektursprache definiert, basierend auf vertikalen und horizontalen Flächen." Zum Symbol der Moderne wurde der Lattenstuhl 1923, als Rietveld, vermutlich inspiriert von Mondrians abstrakter Malerei, eine Variante mit roter Rückenlehne, blauer Sitzfläche, schwarz lackierten Leisten und gelben Akzenten an deren Stirnflächen fertigte. Die Farben unterstrichen die Geometrie und die Materialität des Möbels und machten es so zu einer dreidimensionalen Entsprechung zu Piet Mondrians Bildern. Das Thema des "Rot-Blauen Stuhls" – der Rhythmus der Linien, die wie die Ausschnitte eines Koordinatensystems im Raum stehen – wiederholte der Niederländer in den Folgejahren noch bei anderen Sitzmöbeln, einer Anrichte und einer Hängeleuchte aus drei Leuchtröhren.

Gerrit Rietveld (1888-1964)
© Cassina

Dann kam die Gelegenheit, ein paar Dimensionen größer zu denken: Die vermögende Anwaltswitwe Truus Schröder bat ihn um den Entwurf eines Wohnhauses. Er hatte für sie bereits ein Damenzimmer, den "Raum mit schönen Grautönen", in ihrer Stadtresidenz gestaltet. Nach dem Tod ihres Mannes wollte die Mutter dreier Kinder einen Neuanfang – und ein Heim, in dem sie nach dem Ende ihrer schwierigen Ehe nach ihren ganz eigenen Vorstellungen leben konnte. "Als ich die Chance hatte, ein ganzes Haus nach denselben Prinzipien zu bauen wie den "Rot-Blauen Stuhl", zögerte ich keinen Moment", sagte Gerrit Rietveld.

Truus Schröder wünschte sich einen offenen Wohn-, Koch- und Essbereich im Erdgeschoss und einen großen Schlafraum für sich und ihre Kinder im Obergeschoss. Rietvelds erster Entwurf gefiel ihr nicht, doch aus dem Pingpong zwischen Auftraggeberin und Architekt entstand 1923 ein Wohnhaus, das auch nach heutigen Maßstäben noch extrem modern ist. Wer den Bau, der zum Centraal Museum Utrecht gehört, besichtigt, erlebt, wie Rietveld Farbe einsetzte, um Zonen zu schaffen und enge Räume größer und plastischer wirken zu lassen. Das ganze Obergeschoss ist ein offener Schlafraum mit Schreibtischen für die Kinder, per Schiebetüren unterteilbar in private Bereiche. Der Clou aber ist das Eckfenster der oberen Etage: Es hat keinen Mittelpfosten, und wenn die Fenster nach außen geöffnet werden, scheint der gesamte Raum mit der Natur zu verschmelzen.

Vom Schreiner zum Architekten

Das Projekt sollte das Leben des 35-Jährigen gravierend verändern. Der Tischlersohn hatte seit seinem zwölften Lebensjahr in der Werkstatt des Vaters gearbeitet, in Abendkursen Kunst studiert und sich in Utrecht, unweit der väterlichen Werkstatt, mit einer Schreinerei selbstständig gemacht. Die Zusammenarbeit mit Truus Schröder ließ den Schreiner zum Architekten werden – und brachte ihn der Bauherrin auch persönlich näher. 1924 verkaufte der Familienvater seine Werkstatt, bezog ein Atelier im Erdgeschoss des Schröder-Hauses und begann eine lebenslange Liebes- und Arbeitsbeziehung mit Truus. Offiziell waren sie nur Geschäftspartner, in den streng calvinistischen Niederlanden galt eine außereheliche Beziehung als Skandal. Rietveld blieb bei seiner Frau Vrouwgien und den sechs Kindern, und Truus Schröder äußerte sich erstmals 1974, zehn Jahre nach Rietvelds Tod, offiziell zu ihrer Beziehung.

Das Architekturbüro, das Rietveld betrieb, war zunächst sehr aktiv: Er baute Wohnhäuser im internationalen Stil, mit glatten weißen Fassaden und horizontalen Fensterbändern. Seine Aufgabe aber sah er darin, die Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten zu verbessern – mit funktionalen, günstigen Wohnräumen und Möbeldesign, das auf vorgefertigten Materialien und industrieller Herstellung basierte. Der Raum war für ihn Ausgangspunkt des menschlichen Bewusstseins. Da wir Räume vor allem durch Sehen wahrnehmen, sollten sie aus Linien und Flächen bestehen, die sich im Auge des Betrachters zu einem harmonischen Bild zusammenfügen.

Nach dem Börsencrash von 1929 liefen die Geschäfte für Rietveld nur mittelmäßig. Er experimentierte in seinen Stuhldesigns mit Stahlrohr und Aluminium, tüftelte an Sitzmöbeln, die aus einem Materialstück gefaltet werden sollten, konnte aber kaum kommerzielle Erfolge erzielen. Auch sein Konzept des "Wohnkerns" kam nicht gut an: Rietveld hatte ein vorgefertigtes Kernstück aus Treppenhaus, Flur, Küche und Bad entwickelt, um das je nach Bedarf eine flexible Anzahl von Zimmern gebaut werden konnte. 1933 präsentierte er diese Idee im Wettbewerb "Die preiswerte Arbeiterwohnung", aber die Juroren fanden die Kombination von Wohnraum mit Kochnische nicht akzeptabel.

Für seine eigene Familie baute der Architekt nicht minder radikal. Als er 1936 das Gebäude für das Kino Vreeburg umgestaltete, mit einer supermodernen Fassade aus Glas, hinter der Leuchtkästen angebracht waren, stockte er das Gebäude um eine Wohnetage auf und zog dort mit seiner Familie ein. Die Wohnung mit ihrer neun Meter langen Fensterfassade war nachts so hell illuminiert, dass Rietvelds Frau angeblich mit einer Sonnenbrille im Sessel saß. Die fünf Schlafzimmer waren nur mit Vorhängen vom Wohnraum getrennt.

Pionier der Do-it-yourself-Bewegung

Gerrit Rietveld (1888-1964)
© Cassina

Das wichtigste Möbelstück, das Rietveld in dieser Zeit entwickelte, war der "Zickzack-Stuhl", von dem er selbst sagte, er sei ein "Designerwitz". Reduziert auf eine dynamische Linie im Raum, wirkt "Zickzack", als würde er unter Belastung sofort zusammenklappen, dabei ist er äußerst standhaft. Die Entwicklung war aufwändig, Rietveld experimentierte mit Stahlrohr und Metallrahmen, am Ende waren Holzplatten mit Schwalbenschwanzverbindungen, Schrauben und Muttern die stabilste Lösung. "Zickzack" bringt Rietvelds Ideal kompromisslos auf den Punkt: ein Stuhl, der dem Auge nicht im Weg steht, sondern uns den Raum als Architektur wahrnehmen lässt. Wie weit der Designer seiner Zeit voraus war, zeigen auch die "Kistenmöbel", die er in den 30er Jahren für den Amsterdamer Hersteller Metz & Co. entworfen hatte: Sessel, Tisch und Bücherregal aus Holzbrettern, die der Käufer selbst zusammenbauen sollte – Pionierstücke der Do-it-yourself-Bewegung!

Die 40er Jahre waren für Rietveld eine schwere Zeit. Nach dem Einmarsch der Deutschen in den Niederlanden konnte er als Linksgesinnter seinen Beruf nicht ausüben, und auch nach Kriegsende war seine Auftragslage zunächst mager. Späte Anerkennung brachte die Ausstellung "De Stijl", die 1951 in Amsterdam stattfand. Auf einmal wurde er als der Architekt der niederländischen Avantgarde wiederentdeckt und bekam dadurch prestigeträchtige Aufträge. So baute er Ende der 50er Jahre das Museum De Zonnehof in Amersfort und die Rietveld Academie in Amsterdam. Sein letztes Gebäude, das Vincent van Gogh Museum in Amsterdam, wurde erst 1973, neun Jahre nach seinem Tod, fertiggestellt.


Das Prägnanteste, das Rietveld entworfen hat, dürfte trotzdem sein "Rot-Blauer Stuhl" sein. Bis heute arbeiten sich Generationen von Designern und Architekten gestalterisch daran ab. Von Maarten Baas, der ihn mit einem Flammenwerfer behandelte, über Klaus Block, der ihn in Glas und Gummi nachbaute, bis hin zu Droog Design, die eine Lego-Version herausbrachten. Alle Nachfahren der Ikone haben eins gemeinsam: Es sind keine bequemen Stühle, aber sie lassen Räume schöner wirken.

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