Minimalistisch wohnen – die Kunst des Weglassens

TV-Möbelsystem "Nex Pur Box" von Piure
Weniger ist mehr: Beim minimalistischen Einrichtungsstil werden wenige Element mit Bedacht ausgesucht wie hier Leuchte, Sessel und Lowboard ("Nex Pur Box" von Piure).
© Piure
Der Minimalismus eroberte erst die bildende Kunst, dann folgten Design und Architektur. Mittlerweile ist die Kunst des Weglassens ein etablierter Wohnstil und befreit unsere Wohnung von Überflüssigem.

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Gibt man das Wort Minimalismus bei Amazon ein, findet man Bücher mit Titeln wie "Weniger besitzen, mehr leben" oder "Richtiges Aufräumen für mehr Zeit, Ordnung und Freiheit". Was diese Ratgeberliteratur mit den minimalistischen Möbeln von Maarten Van Severen oder Naoto Fukasawa zu tun hat? Den Grundgedanken, dass Überfluss vom Wesentlichen ablenkt und deshalb schädlich ist – für das Design genauso wie für das Leben an sich.

Wie der Minimalismus entstand

In einem kunstgeschichtlichen Zusammenhang wurde die Bezeichnung Minimalismus erstmals 1965 als Überbegriff für die Werke einer Gruppe von amerikanischen Künstlern, zu denen unter anderem Donald Judd, Carl Andre und Frank Stella gehörten, geprägt. Ihre Skulpturen bestanden meist lediglich aus geometrischen Körpern wie Kuben, Kegeln oder Zylindern. Sie sollten keine Geschichten erzählen und auch keine Symbole darstellen. "What you see is what you see", erklärte Frank Stella. Oder wie Judd fand: "Drei Dimensionen sind wirklicher Raum. Dadurch ist Schluss mit dem Problem des Illusionismus." Kein Wunder, dass eine Kunstrichtung, in der es nicht um metaphorische, sondern um räumliche Bezüge ging, für Design und Architektur wichtig wurde. Den Startschuss gab Donald Judd selbst, als er Ende der 70er Jahre begann, Möbel statt Skulpturen zu schaffen.

Die Kunst des Weglassens

Anfangs stieß die reduzierte Formensprache der Minimal Art auf Ablehnung. Als etwa die Londoner Tate Gallery 1976 eine Skulptur aus Klinkern von Carl Andre ankaufte, schimpfte der "Daily Mirror": "Ziegelsteine sind keine Kunstwerke. Ziegelsteine sind Ziegelsteine. Man kann damit Wände bauen oder das Schaufenster eines Juweliers einwerfen, aber man kann sie nicht übereinanderstapeln und das dann als Skulptur bezeichnen."

Trotz der Kritik der Feuilletons wurden auch andere Kunstrichtungen wie Theater, Musik und Literatur vom Minimalismus ergriffen. Der Schriftsteller Raymond Carver erklärte: "Es ist schwierig, einfach zu sein. Auch ich mache von einer Kurzgeschichte 15 Fassungen." Um die Essenz der Handlung herauszuarbeiten, verzichtete er beispielsweise auf verschachtelte Sätze. "Ich entschlacke meine Geschichten. Denn ich will nicht nur zu ihrem Knochengerüst, sondern zum Mark der Knochen vordringen." Eine Wortwahl, die an Mies van der Rohe erinnert, der seit den 20er Jahren den Ausdruck "Haut-und-Knochen-Architektur" prägte: Stahlrahmen mit großflächigen Glasfassaden, die drinnen und draußen vereinen, den "totalen Raum" kreieren.

Klassiker nach Maß: Regalsystem 606 von Vitsoe
"Weniger, aber besser": Nach diesem Motto baute Dieter Rams 1960 sein Regalsystem "606".
© Vitsoe

Minimalistisch wohnen: von Bauhaus bis Jasper Morrison

Die Prinzipien des Minimalismus gab es also schon viel länger als seinen Namen. Er lässt sich auch nicht auf eine Epoche eingrenzen, sondern ist vielmehr ein Stil, der sich immer weiterentwickelt. Das beweist auch der berühmte Satz "Weniger ist mehr", der ebenfalls von Mies van der Rohe stammt. Und der in den darauffolgenden Jahrzehnten noch oft – etwa in den 60er Jahren von Dieter Rams in "Weniger, aber besser" – umformuliert werden sollte.

Seinen ersten Höhepunkt erreichte das minimalistische Design in den 80er Jahren, als es mit seinen klaren Linien, glatten Oberflächen und den FarbenWeiß, Schwarz und Grau die Gegenbewegung zur Postmoderne war. Diese Abgrenzung gilt auch noch für zeitgenössische Minimalisten. "Meine Hauptkritik richtet sich gegen die Memphis-Gruppe", sagt etwa Jasper Morrison, der seine Entwürfe "supernormal" nennt. Für ihn waren die verspielten Memphis-Formen "Design, das die Bedürfnisse des Nutzers überging". Morrison will das Gegenteil: keine Deko! Seine Produkte zeichnen sich durch Benutzerfreundlichkeit und Bescheidenheit aus.

Box "Vakka" von Iittala
Klare Formen, Schwarz, Weiß und Grau als Farbwelt sowie hochwertige Materialien sind die Designvorgaben im Minimalismus.
© Iittala

Wohnideen mit reduziertem Design

Einer der Lehrmeister Morrisons ist Naoto Fukasawa, Kreativchef der japanischen Lifestyle- und Accessoires-Kette Muji. "Mein Job ist es", erklärt dieser, "ein Objekt auf seine Essenz zu reduzieren, aber seine Poesie zu bewahren." Und deshalb lautet Fukasawas Neuinterpretation von Mies van der Rohes Satz: "Just enough." Gerade genug.

Es geht im Minimalismus also um funktionales Design, aber nicht um Funktionalismus. Nicht das Offenlegen des Mechanismus steht im Vordergrund, sondern die Ästhetik des Produkts. Das bedeutet: Nicht alles, was simpel aussieht, ist auch simpel, ähnlich wie Carvers Kurzgeschichten, die ja nur deshalb einfach wirken, weil sie so kunstvoll konstruiert sind. Auf das Produktdesign übersetzt, heißt das: Komplizierte Technik wird in eine unkomplizierte und schöne Form integriert. Ruhe versus Unruhe, ein Spannungsfeld, das auch in unserem Alltag wirkt, denn je komplexer die Welt, desto größer die Sehnsucht nach Einfachheit – nach Minimum statt Maximum. So konnte aus einer Kunstrichtung ein Lebensstil werden. Und ein Wohnstil, der unsere Einrichtung nachhaltig beeinflusst hat.

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