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Es war ein warmer Sommertag im Juli 1927, als in Stuttgart das bürgerliche Wohnzimmer auf den Kopf gestellt wurde. Der Werkbund hatte zur Eröffnung der Ausstellung "Die Wohnung" in die Weißenhofsiedlung geladen. Unter der Leitung des 31-jährigen Ludwig Mies van der Rohe waren 21 Häuser in nur 21 Monaten gebaut worden. Hier zeigte die Avantgarde der europäischen Architekten von Walter Gropius bis Hans Sharoun, von Le Corbusier bis Bruno Taut, wie sie sich Wohnkultur für das 20. Jahrhundert vorstellte: lichtdurchflutet, sachlich und schnörkellos. Gepolsterte Sitzgarnituren, bunte Perserteppiche, Kronleuchter und Spitzendeckchen, die die Besucher von zu Hause kannten, fehlten gänzlich. Stattdessen sahen sie große Fenster, offene Grundrisse, kahle Wände, Möbel aus Stahlrohr – und Stühle ohne Hinterbeine!
Sein Design wird zum Erfolg
Die Ausstellung war eine der Geburtsstunden der Moderne – und für Ludwig Mies van der Rohe ein Durchbruch in mehrerlei Hinsicht. Zum einen kam bei den von ihm gebauten Mehrfamilienhäusern zum ersten Mal die Stahlskelettbauweise zum Einsatz. Sie ermöglichte größere Fensterflächen und variable Grundrisse – und war ein Vorläufer der Glas-und-Stahl-Bauweise, für die er nach dem Krieg berühmt werden sollte. Während die ungewohnte Askese der Weißenhofsiedlung das Publikum teilweise irritierte, waren die ausgestellten Möbel ein voller Erfolg. Stahlrohr wurde der große Trend der 30er Jahre, und die Freischwinger, die hier sowohl der niederländische Architekt Mart Stam als auch Mies van der Rohe erstmals zeigten, galten plötzlich als Inbegriff des neuen Wohnens. Das leicht nachgiebige, gebogene Stahlrohr sorgte für bequeme Federung, sah dabei aber filigraner und leichter aus als die gewohnten Polsterstühle.
Ludwig Mies va der Rohe und der Freischwinger
Darüber, wer als Erfinder des Freischwingers gelten dürfe – Mart Stam oder Mies –, gab es lange Streit. Auf einen Mitarbeiter von Mies geht folgende Anekdote zurück: Während der Vorbereitungen für die Ausstellung trafen Stam und Mies in Stuttgart zusammen, und Mart Stam skizzierte seinen Stuhl mit rechtwinklig geformten Vorderbeinen, konstruiert aus Gasrohrabschnitten und Winkel-Fittings. Zurück im Atelier, zeichnete Mies den Stuhl an eine Tafel und kommentierte: "Sowas Hässliches mit diesen Muffen. Wenn er wenigstens abgerundet hätte – so wäre es schöner." Daraufhin zeichnete er einen runden Bogen über die Stuhlbeine. Daraus entstand der "MR10"-Freischwinger, der noch heute in Varianten von Tecta, Thonet und Knoll International hergestellt wird. Mart Stam gilt also als Erfinder des "Stuhls ohne Hinterbein", das elegantere Design aber geht auf Mies zurück. Wie visionär der Freischwinger war, muss sein Schöpfer früh geahnt haben, denn schon einen Monat nach der Eröffnung der Weißenhof-Ausstellung stellte Mies in den USA einen Patentantrag.
Die internationale Aufmerksamkeit, die die Weißenhof-Ausstellung hervorrief, brachte Mies einen prestigeträchtigen Folgeauftrag. Gemeinsam mit Lilly Reich, die als erste Frau Vorstandsmitglied des Werkbunds war, sollte er den deutschen Pavillon für die Weltausstellung 1929 in Barcelona gestalten. Mit diesem Repräsentationsbau brachte Mies die Grundsätze der modernen Architektur auf den Punkt: ein freier Grundriss, fließende Übergänge zwischen einzelnen Zonen und dank großer Fensterflächen auch zwischen innen und außen.
Der "Barcelona"-Sessel von Ludwig Mies van der Rohe
Das i-Tüpfelchen der harmonisch-geradlinigen Räume war der "Barcelona"-Sessel, ein elegantes Sitzmöbel aus Flachstahl mit feinen Ziegenlederpolstern, dessen schwungvolle Linien sich harmonisch in die Blickfluchten einfügten. Die scherenförmig verschweißten Seitenteile waren von antiken Klappstühlen inspiriert. Andere Designer der Bauhaus-Ära verfolgten das Ideal, funktionale Möbel zu erschwinglichen Preisen herzustellen. Für Mies van der Rohe lag der Reiz der Reduktion eher in der Verfeinerung als in der Demokratisierung des Designs. Die Herstellung des "Barcelona"-Sessels, der ersten Stilikone unter den Sitzmöbeln, ist bis heute sehr aufwändig und kostspielig, da die Schweißnähte von Hand geschliffen werden müssen.
Wohnen á la Mies van der Rohe
Das Arrangement von Möbeln im Raum trieb Mies in Barcelona zur Perfektion. "Kein zweiter moderner Architekt von Rang legt so großen Wert auf die Stellung der Möbel", sagte der amerikanische Architekturkritiker Philip Johnson einmal. "Mies macht sich über die Verteilung der Stühle in einem Raum ebenso viele Gedanken wie andere Architekten über die Gruppierung von Gebäuden um einen Platz."
Das Gesamtkunstwerk von Interieur und Architektur setzte Mies mit dem Entwurf der Villa Tugendhat im tschechischen Brno (Brünn) fort. Das Wohnhaus einer Textilfabrikantenfamilie hebt die Grenzen von innen und außen weitgehend auf. Statt Räume nach Funktionen zu unterteilen, schuf Mies ein offenes Raumkontinuum. Viele Außenmauern wurden durch Glasscheiben ersetzt, die im Boden versenkt werden konnten. Eingerichtet war die Villa minimalistisch: Chrom, weiße Wände, wenige, zum Teil eigens für das Haus entworfene Sitzmöbel.
"Kann man in der Villa Tugendhat wohnen?", fragte die Werkbund-Zeitschrift "Die Form" provokativ. "Ist das Wohnen in diesem Einheitsraum nicht ebenso ein Paradewohnen wie in alten Gesellschaftsräumen?" Grete und Fritz Tugendhat verteidigten ihr Traumhaus in der folgenden Ausgabe: "Es ist richtig, man kann im Hauptraum keine Bilder aufhängen, ebenso wenig kann man wagen, irgendein die stilvolle Einheitlichkeit des Mobiliars störendes Stück hineinzutragen. Wird aber deswegen das persönliche Leben erdrückt?" Nur acht Jahre lang konnte die Familie das Meisterwerk bewohnen. Nachdem die Nationalsozialisten das Land besetzt hatten, flohen die Tugendhats nach Venezuela. Ihr Haus erlebte eine wechselhafte Geschichte: In den 40er Jahren residierte hier Flugzeugbauer Willy Messerschmitt, nach Kriegsende zog die Rote Armee ein, später nutzte das benachbarte Kinderkrankenhaus die Räume.
Der Gang ins Exil für Mies van der Rohe
Auch für den Architekten begann eine Zeit der Unsicherheit. 1930 wurde Mies als Direktor zum Bauhaus Dessau berufen, das aber bereits 1932 von den Nazis geschlossen wurde. Die Moderne hatte im Dritten Reich keine Chance, man wohnte unterm Spitzdach und mit schweren Massivholzmöbeln. Mies blieb länger in Deutschland als Bauhaus-Kollegen wie Klee, Gropius oder Kandinsky. Erst als Hitlers Kulturbeauftragter ihn fragte, ob er bereit sei, seine Entwürfe unter dem Namen des Führers zu bauen, so erzählte es Georgia van der Rohe im "Spiegel", verließ er noch in derselben Nacht Deutschland – und Lilly Reich. In Amerika leitete er die Architekturabteilung des Armour Institute in Chicago und gründete 1939 dort sein Architekturbüro. Nur ein Einfamilienhaus baute Mies in seiner amerikanischen Zeit – das Farnsworth House in Illinois. Ansonsten widmete er sich dem Hochhausbau. Mies, der schon in den 20er Jahren Hochhauskonstruktionen aus Glas und Stahl entworfen hatte, wurde nun zum Star des International Style und errichtete Stahlkonstruktionen mit filigranen Profilen und gläsernen Vohangfassaden. Zu seinen berühmtesten Bauwerken zählen Lake Shore Drive 860/880 in Chicago (1951) und das Seagram Building in New York (1958).
In Deutschland baute Mies nur noch einmal: Anfang der 60er Jahre kam der Auftrag für die Neue Nationalgalerie in Berlin. Der damals schon Mitte 70-Jährige besuchte mehrmals die Baustelle, konnte aber an der Einweihung des Ausstellungsraumes aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr teilnehmen. 1969 starb er in Chicago an einer Lungenentzündung. Seine berühmtesten europäischen Bauwerke sind heute Museen: Der Barcelona-Pavillon wurde 1986 rekonstruiert.
Die Villa Tugendhat im tschechischen Brno, seit 2001 auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes, wurde erst in den vergangenen Jahren aufwändig saniert. Seit März 2012 ist das Haus für geführte Besichtigungen geöffnet.
Autorin: Dorothea Sundergeld
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Die Idee des Stahlrohr-Stuhls ohne Hinterbeine, die der Niederländer Mart Stam Mitte der 20er Jahre entwickelt hatte, wurde im Bauhaus-Umfeld begeistert aufgegriffen. Mies van der Rohe nahm für sich in Anspruch, als erster die Federkraft des Stahlrohrs für die neue Form genutzt und so den ersten Stuhl geschaffen zu haben, der den Namen "Freischwinger" verdiente. Heute sieht man Marcel Breuers Variante dieses Typs am häufigsten; in den 20er und 30er Jahren jedoch war Mies' Stuhl mit seinem zeichenhaft gerundeten Rahmen eine der Ikonen avantgardistischen Wohnens.
Aus dem Jahr: 1927
Hersteller: tecta
Für den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1929 entwarf Mies van der Rohe diesen Sessel, dessen noble Ausstrahlung nicht von ungefähr kam: Das spanische Königspaar sollte bei der Eröffnungszeremonie darauf Platz nehmen. Heute gilt der "Barcelona Chair" als Ikone der klassischen Moderne; zugleich illustriert er wie kaum ein anderes Möbelstück die Entwurfshaltung des Bauhaus-Meisters. Die X-Form der Beine führt ein antikes Motiv fort, die Trennung in tragendes Gestell und lastendes Polster wirkt modern und klassisch zugleich – und die Ausführung ist so edel, dass sich der Sessel bewusst nicht für die Massenproduktion eignete. Möglich wurde diese erst, als Knoll die einteilige Ziegenhaut des Originals durch 40 Lederquadrate ersetzte.
Aus dem Jahr: 1929
Hersteller: Knoll
Die Liege, die Ludwig Mies van der Rohe für den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1929 entwarf, gilt gemeinsam mit dem dazugehörigen Sessel als eine der Ikonen der Moderne schlechthin. Die Form ist Bauhaus-typisch reduziert, das Material entspricht der Noblesse des Ortes: Hartholz, verchromter Edelstahl und weichstes Leder – 72 Quadrate, von Hand geschnitten und vernäht.
Aus dem Jahr: 1930
Hersteller: Knoll