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Ein Sommertag 1938. Hell liegt die Bucht am Sund zwischen Dänemark und Schweden, Dampfer bringen die Tagesurlauber von Kopenhagen hierher. Fröhlicher Lärm liegt in der Luft, Gelächter und Musik; alle freuen sich auf einen sorglosen Tag in dem hypermodernen Seebad, entworfen vom jungen Architekten Jacobsen, von dem jetzt jeder spricht. Wenn das Wetter mitspielt, wird abends im großen Revuetheater sogar das Dach geöffnet wie bei einem Cabrio!
Zeitsprung, ein paar Jahre später, ein paar hundert Meter nördlich. Zwei Ehepaare haben sich für eine Bootstour verabredet. Vier Stunden soll die Fahrt dauern, bis nach Schweden rüber – aber es ist kein Vergnügungsausflug. Der Jude Arne Jacobsen und der linke Kulturjournalist Poul Henningsen müssen fliehen, und sie tun das mit ihren Frauen im September 1943 in einem Ruderboot durch die von Nazi-Deutschen verminte Meerenge. Dass Arne Jacobsen später besonders in Deutschland ein gesuchter Architekt für Rathäuser, Schulen und Firmenzentralen sein wird und dass seine Möbelentwürfe weltberühmt werden – keiner hätte es damals geglaubt, er selbst am allerwenigsten.
Kontrast zwischen Bauhaus und Biederkeit
Nicht nur wegen dieser Zwangspause scheint das Bild von Arne Jacobsen manchmal widersprüchlich. Stilistisch gibt es viele Jacobsens. Sein gebautes Alterswerk ist teilweise kühl und abweisend (etwa sein Rathaus in Mainz). Springt man aber zurück zu Jacobsens erstem eigenem Haus, mit Ende 20 gebaut und eingerichtet, findet man einen Kontrast ganz anderer Art, an der Grenze zur unfreiwilligen Komik: außen weiße Bauhaus-Moderne, innen Biederkeit - Tüllgardinen, Möbel mit gedrechselten Beinen, kleine Topfpflanzen. Von hier zu seinem durchkomponierten Komplett-Look, manchmal als modisches Styling verspottet, war es ein weiter Weg. Und Widersprüche auszuhalten und im glücklichen Fall zu versöhnen, das scheint das große durchgehende Thema seines Lebens zu sein.
Geburt und Kindheit von Arne Jacobsen
Geboren wird Arne Jacobsen 1902 als Sohn eines Kopenhagener Kaufmanns, die Vorfahren kamen aus Portugal und brachten jüdische Wurzeln mit. Der Junge wächst inmitten schwülstiger Tapeten auf, die er, einer Anekdote zufolge, irgendwann weiß übertüncht. Maler will er werden, für den Vater eine brotlose Kunst. Mit dem Argument, ein Architekt müsse auch zeichnen können, macht er ihm das Baustudium an der Kopenhagener Akademie schmackhaft, und so lernt es Arne auf die ganz traditionelle Art: Klassische Bauten werden vor Ort millimetergenau vermessen und skizziert.
Das futuristische Haus der Zukunft
Als er mit einer Arbeit 1925 auf der Pariser Weltausstellung eine Goldmedaille bekommt und in der Urkunde "Artiste" steht, verspottet ihn der Vater: Das müsse ein Irrtum sein, "für einen Künstler bist du zu fett!". In der Tat sind Torten für Arne Jacobsen lebenslang eine Versuchung. Der Vater irrt dennoch: Sein Sohn gewinnt einen Wettbewerb für ein "Haus der Zukunft" und bekommt viel Aufmerksamkeit für seine künstlerisch futuristischen Ideen: Kreisrund ist das Haus, optimistisch und kühn, auf dem Dach ein Hubschrauberlandeplatz, im Basement ein Bootsanleger. Schnell darf der junge Architekt auch ganz real bauen: Wohnhäuser, Rathäuser und als ersten Höhepunkt das Seebad nördlich von Kopenhagen in der Bucht von Klampenborg.
Jacobsens Exil in Schweden dauert nur zwei Jahre, aber es soll ihn stark verändern. Seine Frau Jonna, Textildruckerin, öffnet ihm hier die Augen fürs Botanische. Er malt wie besessen. "Ich muss", sagt er einmal; und ein Besucher: "Es fließt nur so aus ihm heraus." Die Naturmotive haben einen doppelten Effekt. Er kann sie noch aus dem Exil an Warenhausketten als Tapeten- und Stoffdessins verkaufen. Und er wird in seinen botanischen Bildern – anfangs so naturalistisch, dass man die Wiesen, Blumen und Kräuter fast zu riechen meint – immer abstrakter; manche sagen, hier liege die Quelle des späteren Designers Jacobsen mit seinen so typischen organisch-fließenden Linien.
Arne Jacobsen hatte nie mehr als zehn Mitarbeiter
Zurück in Dänemark bringt ihm die Bucht von Klampenborg zum dritten Mal Glück. Wieder baut er hier Siedlungen, hochgelobt für ihre Mischung aus Naturnähe, sozialer Nachbarschaft und entspanntem Komfort. Hier wohnt er auch selbst, wird nie wieder wegziehen und im Basement sein Architekturbüro mit nie mehr als zehn Mitarbeitern betreiben. Treuer Großkunde ist ein pharmazeutischer Konzern. Als dort Kantinenstühle gebraucht werden, entstehen fast nebenbei die ersten von Jacobsens späteren Design-Ikonen – der "Ameisen"-Stuhl und seine Weiterentwicklung, der "7er".
Das innovative Design Arne Jacobsens
Jetzt kann Jacobsen zeigen, was er wie kein anderer mühelos zusammenbringt: das Wissen um klassische Proportionen und den neugierigen Blick nach vorn. Innerhalb weniger Jahre, zwischen 1952 und 1960, schafft er Designstücke, deren Ruhm heute seine architektonische Arbeit überstrahlt. Geschwungene Stühle aus Formholz hatten andere schon vor ihm gemacht, Aalto in Finnland, Eames in den USA. Aber noch keiner hatte es bei einem Serienstuhl gewagt, die durchgehende Holzschale für Po und Rücken nicht nur in einer, sondern in zwei Richtungen zu biegen.
Den Glauben, dass dies funktionieren kann, nimmt Jacobsen von verdrehten hölzernen Flugzeugpropellern. Und er erfindet zwei statische Neuerungen: den Tailleneinschnitt und, an dieser schwächsten Stelle, ein unsichtbares Textilinlay als Stabilisator der gegensätzlichen Federkräfte. Selbst die Holzmanufaktur Fritz Hansen ist anfangs skeptisch, und Jacobsen muss eine Abnahmegarantie für 100 Stühle übernehmen, um die Serienproduktion anzuschieben.
Keine Angst vor neuen Materialien
Es sollte eine der erfolgreichsten Stuhlserien der Welt werden. Jacobsen hat in den optimistischen 50er Jahren, die manche auch "Taille des Jahrhunderts“ nennen, die dazugehörende Linie gefunden, raffiniert und doch pur, modern, aber doch natur- und handwerksnah. Und weil er keine Angst vor neuen Materialien hat, geht er noch weiter. "Schwan" und "Ei" entstehen aus einem Styroporkern – eigentlich sehr unskandinavisch.
Doch Jacobsen reizen die freien bildhauerischen Möglichkeiten. Er kann dies, weil er beim Prestigeprojekt des neuen Kopenhagener "SAS Royal Hotel" durchgesetzt hat, dass er buchstäblich alles entwerfen darf, von der Glasfassade bis zu den Details der Innenausstattung. "Stildiktat", "Aquariumsarchitektur" – zur Eröffnung 1960 gibt’s durchaus nicht nur Lob, sondern auch Kritik und Spott für den Komplett-Look.
"Er war Perfektionist und gewitzt."
Heute, mit Abstand, sieht jeder, was es auch war: das erste konsequente Designhotel, als dies noch niemand so nannte. Auch in anderem erweist sich Jacobsen heute als Pionier, klarsichtig erkannte er die Wichtigkeit von Farbkonzepten. Und, noch folgenreicher: die immense Kraft bildhafter Silhouetten. Sein eigenes, sein persönliches Bild dagegen scheint widersprüchlicher. Jacobsen-Forscher Carsten Thau von der Königlichen Kunstakademie Kopenhagen muss lange überlegen, um den Menschen Jacobsen zu erklären. "Er war Perfektionist und gewitzt", sagt er, "und er war scheu und nach innen gewandt. Ich glaube, zwischen diesen beiden Polen ist er sein ganzes Leben lang gependelt."
Autor: Rolf Mecke
DESIGNT FÜR DIESE HERSTELLER:
ALLE PRODUKTE DES DESIGNERS

Sessel "Ei"
Für die Fluglinie SAS entwarf Arne Jacobsen in den 50er Jahren ein Hotel in Kopenhagen, bei dem ihm die Bauherren fast unbegrenzte Freiheit ließen: Nicht nur das Gebäude mit seiner modernen Vorhangfassade, sondern auch die gesamte Innenausstattung plante Jacobsen selbst bis ins letzte Detail. Vieles, was dabei entstand, wurde zu Klassikern der skandinavischen Nachkriegsmoderne – die Leuchte "AJ", der Stuhl "Schwan" und auch dieser Sessel, der heute zu den bekanntesten Möbeldesigns Jacobsens zählt. Mit seiner sympathisch gerundeten Kunststoff-Sitzschale, die Komfort und Geborgenheit verspricht, versöhnte dieser Entwurf des Dänen einmal mehr Wohnlichkeit mit modernsten Fertigungsmethoden.
Aus dem Jahr: 1958
Hersteller: Fritz Hansen

Tablett "Cylinda Line"
Die zylindrische Gestalt, die die Kannen, Schüsseln und Schälchen der "Cylinda Line" verbindet, findet sich bei dem dazugehörigen Tablett mit seiner strengen Kreisform wieder. Selbst die Griffe folgen als schmale, gebogene Stahlbänder diesem Grundmotiv. Arne Jacobsen entwickelte die Produktserie für Stelton, wo sein Schwiegersohn Peter Holmblad als Vertriebsleiter arbeitete. Dieser war es auch, der Jacobsen zu den Entwürfen überreden konnte – angeblich, nachdem er ihm einige seiner eigenen, in den Augen des Großmeisters eher mittelmäßigen Entwürfe gezeigt hatte.
Aus dem Jahr: 1967
Hersteller: Stelton

Stuhl "Lilie"
Die "Lilie" führt die Tradition von Arne Jacobsens Ur-Stühlen "Ameise" und "3117" weiter, steigert die schlichten Linien der frühen Entwürfe aber in eine florale, lebendig bewegte Form. Was man dem Stuhl, den Jacobsen für die dänische Nationalbank entwarf, nicht ansieht, ist der immense Aufwand beim Finden der richtigen Biegungsmaße – denn der Stuhl sollte nicht nur schön sein, sondern auch bequem.
Aus dem Jahr: 1970
Hersteller: Fritz Hansen

Armatur "FS 2"
Diese Dusch-Armatur ist wie die Mischbatterie "KV1" Teil der Serie, die auf Arne Jacobsens Entwürfen für die dänische Nationalbank basiert. Wie dort verschwinden hier Rohre und Technik in der Wand, zu sehen sind nur Hebel, Hahn und ein bestechend einfacher Duschkopf: ein Rohr aus Edelstahl, kaum dicker als der Schlauch, mit feinen seitlichen Löchern als Wasseraustritt.
Aus dem Jahr: 1968
Hersteller: Vola

Armatur "KV 1"
Arne Jacobsen entwarf die Ur-Form dieser Armatur 1961 für seinen Neubau der Dänischen Nationalbank. Innovativ war die Idee, die gesamte Armatur in der Wand zu verbergen und nur Hahn und Hebel als geometrisch geformte Schmuckstücke hervortreten zu lassen. Deren Gestalt übertrug Jacobsen später auch auf konventionelle Armaturen zur Wand- und Tischmontage, die Vola schließlich als breit ausgebaute Serie auf den Markt brachte. Deren Grundform – gerade Linien, geometrische Rundungen – inspiriert das Bad-Design bis heute.
Aus dem Jahr: 1968
Hersteller: Vola

Service "Cylinda"
Die "Cylinda Line", die Arne Jacobsen für Stelton entwarf, ist Teil eines Paradigmenwechsels im dänischen Design der 60er Jahre: weg von Teakholz und organischen Rundungen, hin zu kühleren Materialien und einer strengen, dabei aber immer noch sinnlichen Geradlinigkeit. Die zylindrischen Schalen, Schüsseln und Kannen der Serie bestehen aus gebürstetem Stahl, ergänzt durch einheitliche, eigenwillig geformte Kunststoffgriffe.
Aus dem Jahr: 1967
Hersteller: Stelton

Aschenbecher "Cylinda"
Von seinem Schwiegersohn Peter Holmblad, Exportmanager und späterer Besitzer von Stelton, ließ sich Arne Jacobsen Mitte der 60er Jahre zu einigen Entwürfen überreden. Für das Unternehmen, das hochwertige Haushaltswaren aus Edelstahl fertigt, entwickelte er die "Cylinda Line": Kannen, Schalen, ein Teeservice und eben diesen Aschenbecher, alle mit streng zylindrischer Form und gebürsteter Oberfläche. Sie verkörperten den kühlen, aber sinnlichen Minimalismus, der die dänische Teakholz-Moderne der Jahrhundertmitte gerade abgelöst hatte.
Aus dem Jahr: 1967
Hersteller: Stelton

Kerzenständer "Candleholder"
Dieser Kerzenständer ist einer der zahlreichen Entwürfe Jacobsens für die Innenausstattung des SAS-Hotels in Kopenhagen, die sich auch in der Serienproduktion bewährten und schnell zu Klassikern des skandinavischen Designs wurden. Als Basis dienen drei Kugeln aus poliertem Aluminium, in deren Vertiefungen die Kerzen Halt finden.
Aus dem Jahr: 1958
Hersteller: Georg Jensen

Leuchte "AJ"
Dank der asymmetrischen Tütenform ist Arne Jacobsens Entwurf, nach seinem Schöpfer schlicht "AJ" genannt, eine der markantesten Tischleuchten der neueren Designgeschichte und zugleich eines der Markenzeichen des dänischen Designs der Nachkriegsjahrzehnte. Jacobsen schuf die Leuchte für das von ihm entworfene SAS-Hotel in Kopenhagen, dessen Innenausstattung er von den Möbeln über die Textilien bis hin zum Besteck konsequent durchplante – ein echtes Designer-Hotel zu einem Zeitpunkt, als es dieses Wort noch gar nicht gab.
Aus dem Jahr: 1957
Hersteller: Louis Poulsen

Stuhl "Ameise 3100"
Die "Ameise", die ihren Namen der taillierten Rückenlehne verdankt, entwarf Arne Jacobsen für die Kantine eines dänischen Pharmaunternehmens. Dank der neuartigen, von Charles und Ray Eames in den USA entwickelten Schichtholz-Formpressung, war er als erster von Jacobsens Stühlen auch für die Massenproduktion geeignet, auch wenn er wegen der extravaganten Sitzschale und dem Dreibeingestell nicht unbedingt nach Kassenschlager aussah. Erzählt wird, dass Fritz Hansen den Stuhl tatsächlich erst ins Programm nahm, nachdem Jacobsen sich bereiterklärt hatte, im Falle eines Flops die gesamte Produktion aufzukaufen. Die "Ameise" entwickelte sich jedoch langsam aber stetig zu einem beliebten Stuhl, nicht nur für öffentliche Räume.
Aus dem Jahr: 1952
Hersteller: Fritz Hansen

Stuhl "Schwan"
Den Sessel "Schwan" entwarf Arne Jacobsen für das von ihm geplante SAS-Hotel Kopenhagen – ein Vorgehen, das für den Architekten und Produktgestalter charakteristisch war: Neue Möbel entwarf er dann, wenn er sie für das Interieur eines seiner Gebäude brauchte, und nicht, wenn der Hersteller etwas Neues auf den Markt bringen wollte. Jacobsen, der wie auch Poul Kjaerholm das dänische Design der Jahrhundertmitte vom Teakholz-Image befreite, experimentierte bei diesem Stuhl zum ersten Mal mit einer Sitzschale aus Kunststoff.
Aus dem Jahr: 1958
Hersteller: Fritz Hansen

Stuhl "3107"
Der Formholzstuhl mit dem schlichten Namen "Modell 3107" ist nicht nur einer der bekanntesten Entwürfe Jacobsens, sondern auch einer der am häufigsten produzierten Stühle weltweit: Über 7 Millionen Stück wurden bis heute verkauft. Als omnipräsentes Symbol dänischer Designkultur steht er in Kongresshallen, Kirchen und Cafés; er ist leicht, stapelbar und fügt sich dank der über 50 Material- und Farbvarianten bescheiden in jedes Umfeld ein. Unverkennbar bleibt dabei die gerundete Dreiecksform der Sitzschale aus formgepresstem Schichtholz.
Aus dem Jahr: 1955
Hersteller: Fritz Hansen