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Kann ein wippender Traktorsessel Kunst sein? Und verdient ein Fahrradsattelhocker eine Goldmedaille für gute Form? Einzeln gesehen sind es vielleicht nur liebenswerte Schrulligkeiten, doch haben Stücke wie diese das moderne Design begründet. Und noch mehr das Bild des Designers, wie er sich selbst am liebsten sieht: als freier Autor und furchtloser Forscher, als mutiger Collagist und gewitzter Ideenjongleur.
Als Achille Castiglioni 2002 mit 84 Jahren starb, überboten sich die Trauerbekundungen mit hymnischen Nachrufen. "Er hat nicht mit dem Zeichenstift entworfen, sondern mit dem Kopf", schwärmte Michele De Lucchi, in Paris bekannte Philippe Starck: "Ohne ihn gäbe es uns gar nicht!" und in London Norman Foster: "Er war mein Held." Ziemlich viel Ehre für einen - aber genau genommen war Achille auch nicht allein gemeint, nur hatte er von einst drei entwerfenden Castiglioni-Brüdern am längsten gelebt, sodass er ein Stück Legendenbildung miterleben konnte.
Die Brüder Castiglioni
Ihr aller Vater Giannino Castiglioni war Bildhauer, arbeitete noch am reich verzierten Mailänder Dom mit, doch seine drei Jungs zog es ins Modernere und zum Architekturstudium. Sieht man sie auf einem frühen Bild aus den 30ern – drei Brüder auf dem Weg zum Tennisplatz –, dann ist da selbst mitten in Mussolinis Fascismo-Jahren ein Hauch lässigen Dandytums zu spüren. Als Achille, der jüngste, in das Architekturbüro der Brüder eintritt, ist er 26 Jahre alt und voller Tatendrang. Zwar sind Bauaufträge rar und Livio, der älteste der drei, steigt nach ein paar Jahren aus, um sein Gück in der Radiobranche zu suchen.
Doch Achille und Pier Giacomo machen, was nach ihnen viele Designer tun: Sie behalten das "Architetto" auf der Visitenkarte, aber sie weichen auf Kleinobjekte und Interieur aus. Erste Werke sind ein aluminiumleichter Staubsauger zum Umschnallen und eine Deckenfluterleuchte, schlank wie ein Besenstiel. Als der Vater sie einmal beim Entwerfen beobachtet, sagt er: "Ihr nehmt immer nur weg, irgendwann ist gar nichts mehr da." – "Das gefiel ihm nicht", erzählt Achille später in einem Interview, "aber unser System hatte er verstanden; wir wollten durch Weglassen zum Eigentlichen kommen, zur Essenz."
Das "System Castiglioni"
In Messe-Inszenierungen können sie sich ausprobieren, und sie tun das unabhängig von allen Schulen, ohne Berührungsängste dem Neuen, aber ebenso neugierig dem Historischen gegenüber. Jahrzehnte später wird man die Freiheit des Kombinierens "das System Castiglioni" nennen, später wird man auch analysieren, was sie jetzt, in den 50ern, alles machen, vieles davon aus reinem Spaß an der Freiheit. Für den Fernsehsender RAI lassen sie Besucher durch leuchtende Wolken gehen, für einen Keramikhersteller bauen sie einen Prüfungsparcours durch WC-Schüsseln.
Ihre erste Designikone entsteht, ohne dass sie es recht merken: Für die Ausstellung "Colori e forme nella casa d’oggi" (Farbe und Formen im Heim von heute) stellen sie zwischen Paravents und hängenden Regalen einen schlichten Treckerstuhl mit ins Bild. Erst 20 Jahre später wird er von Zanotta auf den Markt gebracht, und Kunstkritiker rekonstruieren die Castiglioni-Installation, weil sie darin erste Beispiele für Stilmix und mobiles Wohnen sehen – im Rückblick; in den 50ern erntet der Raum eher Achselzucken.
Das Erfolgsthema Licht
Ersten realen Erfolg haben die Brüder 1960 mit einer Biergaststätte ("Splügen-Bräu"), die sie in einem selbst für Mailand mutigen Stilkontrast einrichten: Bänke wie in einer Kirche, darüber Lampen aus spiegelndem Aluminium. Überhaupt Licht: Mit der gerade neu gegründeten Firma Flos haben sie ihren ersten großen Partner und ihr erstes auch kommerziell großes Thema gefunden. Wieder mixen sie Alt und Neu, und sie bauen Leuchten, wie es sie noch nicht gibt. Ein Kunststofffilm aus der Spraypistole umhüllt ein Drahtgestell, als sei es ein Seidenkokon, eine riesiger raumgreifender Lampenbogen wird gehalten von einem 60-Kilo-Marmorblock, und eine Stativstange trägt nichts weiter als einen Autoscheinwerfer.
Fotogen platziert in historischen Palazzi, werden die eigensinnigen Leuchten schnell zu Stars des neuen italienischen Designs. Mitten im Erfolg dann 1968 der Schock: Pier Giacomo stirbt, nur 55-jährig. "Wie zwei Köpfe auf einem Körper" seien sie gewesen, schreibt der "Corriere della Sera", und Achille erzählt Jahre später, dass er aufgeben wollte. "Es kam so plötzlich! Und ich wusste nicht, wie ich allein, ohne meinen Widerpart, ohne ihn als Gesprächspartner, meine Arbeit organisieren sollte." Lange habe er sich damit geholfen, "einfach so zu tun, als sei er noch da".
Die Universität als Spielfeld
Er sucht sich, wie vorher nur sein Bruder, jetzt auch die Universität als Spielfeld und besinnt sich auf seine Studienerfahrungen in den letzten Kriegsmonaten, als für tiefgehende Seminare keine Zeit mehr war und ihm sein Dozent riet: "Nimm dir ein Projekt und improvisiere, so gut du kannst." Das passt jetzt doppelt gut.
Theorien gegenüber waren die Castiglioni-Brüder immer schon skeptisch gewesen, und zieht man von ihren Statements die melodiös-theatralische Rhetorik der italienischen Sprache ab, bleiben wenige Merksätze übrig. Einer lautet: "Eigentlich ist schon alles erfunden, man muss es nur sehen", ein zweiter wird jetzt zum gelebten Leitspruch des Hochschullehrers Achille: "Wenn du selbst nicht neugierig bist, langweile nicht andere." Das tut er nun ganz bestimmt nicht. Seine Hörsäle sind überfüllt, so charismatisch wurde Design noch nie erklärt. Er bekommt Szenenapplaus, wenn er nachspielt, wie er für seine Frau eine schlichte Leselampe fürs Bett entwirft, weil er lieber schlafen will, oder zeigt, wie leicht sich mit einem Besenstiel schwere Marmorblöcke verschieben lassen.
Das macht Lust auf den Designerberuf, auch wenn Nachfolgegenerationen merken, dass das Umgekehrte leider auch gilt: Was immer sie an neuen Ideen versuchen, Castiglioni hat es längst vor ihnen ausprobiert – den ironischen Zeitsprung, den Kontrast der Materialien, den fremden neuen Zusammenhang. Noch mit über 70 entwirft er wenige klare Dinge: ein Regal, das sich an einer Mittelachse auffächern lässt, eine Leuchte, die an ein Ei aus Porzellan erinnert, oder ein Besteck mit den kantigen Griffen von Zimmermannsbleistiften.
Castiglioni-Studio - eine Wunderkammer
Zur Inspiration sammelt er Allerweltsfundstücke, seine Schränke sind voll mit exotischen Werkzeugen und Spielzeug – und sie sind es noch heute. Denn dank einer Stiftung ist das Castiglioni-Studio als Museum konserviert, wie eine Wunderkammer aus einer Zeit, als Design noch von Hand gemacht wurde. "Schauen Sie hier", sagt Giovanna, die eine kleine Gruppe über die knarrenden Dielen zu den raumhohen Magazinschränken führt, "es ist alles noch da." Sie muss es wissen, sie ist eigentlich fast selbst Teil des Museums. Sie ist Achilles Tochter, sie hat noch gespielt, wo der Papa spielerisch Design entwickelte.
Mag der bildhauernde Opa im Kunstreiseführer stehen – die langen Wartelisten für die Führungen gibt es im Atelier seiner Söhne: So populär ist Design geworden. Und das ist die eigentliche Kunst an einem Traktorsitz, der seine Betrachter verzaubert – dass er sie lächeln lässt.
Autor: Rolf Mecke
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ALLE PRODUKTE DES DESIGNERS

Dieser Entwurf wirkt wie ein typischer Castiglioni, auch wenn die Idee von einem Kollegen stammte: Warum nicht einfach mal das Leuchtengestell durch ein gespanntes Seil ersetzen? Der Draht, der an der Decke aufgehängt wird, erhält eine schwere Bodenplatte als Gegenpart, dazwischen lässt sich der Leuchtenkörper mit seinem geknickten Klemmrohr auf- und abschieben – ein geistreiches und zugleich intuitiv verständliches Design.
Aus dem Jahr: 1971
Hersteller: Flos

Castiglionis Entwürfe stehen für einen unbefangenen Umgang mit dem Vorgefundenen – ein Ansatz, der sich in originellen Produkten spiegelt, die ihre Rationalität erst auf den zweiten Blick offenbaren. So ist es auch hier: Eine einfache Silberschale, darin eine zum Kreis gebogene Drahtfeder, die die Zigarette hält, mehr nicht. So unkonventionell diese Zusammenstellung wirkt, so funktional ist sie tatsächlich.
Aus dem Jahr: 1971
Hersteller: Alessi

Die Wandleuchte "Calle" ist das Produkt einer Zusammenarbeit Castiglionis mit der Designerin und Architektin Gae Aulenti. Mit dem kantigen Reflektor und den chromglänzenden Drähten der tragenden Struktur mutet die Leuchte streng und technisch an, überzeugt aber gerade durch ihre feine Zurückgenommenheit.
Aus dem Jahr: 1988
Hersteller: FontanaArte

Aus Teilen eines Autoscheinwerfers ist dieser Deckenfluter zusammengesetzt, der wie kaum ein anderer Entwurf die Arbeitsweise der Castiglioni-Brüder anschaulich macht. Wie Duchamp bei seinen Ready-Mades, so griffen auch sie Dinge der Alltagskultur auf und fügten sie zu neuen, sinnhaften Einheiten zusammen – stets aber so, dass am Ende kein bloßer Design-Gag stand, sondern ein innovatives, funktionales Produkt.
Aus dem Jahr: 1962

20 Dreiecke aus poliertem Aluminiumguss, mit je drei Fassungen versehen, bilden die verblüffend einfache Basis für diese Deckenleuchte. Opulent wird sie durch die 60 klaren Globe-Glühlampen, die sich wie eine zweite Schicht um den konstruktiven Kern legen. Das Ergebnis ist eine Raumwirkung wie bei einem klassischen Lüster, umgesetzt mit spartanischen Mitteln.
Aus dem Jahr: 1988
Hersteller: Flos

Ein "Mezzadro" ist ein Bauer, der die Hälfte seines Ertrages als Zins abführt, und tatsächlich stammen die Einzelteile dieses berühmtesten aller Castiglioni-Entwürfe aus der Landwirtschaft: ein Traktorsitz, der bequemlichkeitshalber etwas verbreitert ist, dazu ein Band aus Federstahl, beide zusammengehalten von einer nostalgischen Flügelschraube. Eine hölzerne Sprosse, die aus einer Leiter stammen könnte, stützt die Konstruktion am Boden. Der Hocker, der in beinahe jedem Museum für Produktgestaltung, aber in kaum einem Privathaushalt steht, ist eines der bekanntesten Designobjekte des 20. Jahrhunderts und steht prototypisch für die Ready-Made-Ästhetik der Castiglioni-Brüder.
Aus dem Jahr: 1957
Hersteller: Zanotta

Für Castiglioni, der mit gewitzten Objekten wie dem Traktorsitz-Hocker "Mezzadro" berühmt wurde, ist diese Leuchte ein Entwurf von ungewohnter Schlichtheit. Mit ihrer ovalen Form schreibt sie die Tradition der klassischen Hängeleuchte fort, verzichtet aber auf filigrane Spielereien. Zeitgemäß sind die Materialien: Polycarbonat für die Leuchtenbasis, mattiertes Opalglas für den Schirm.
Aus dem Jahr: 1992

Der Tisch "Leonardo" ist eines der frühesten Möbelstücke Castiglionis. Form und Konstruktion sind von klassisch-robusten Arbeitstischen abgeschaut, wie sie Bildhauer benutzen (daher der Name); hochwertige Oberflächen und durchdachte Details wie die höhenverstellbare, rutschfest gelagerte Platte machen aus dem Werkstatt-Möbel jedoch einen markanten, soliden Tisch für die Wohnung.
Aus dem Jahr: 1940
Hersteller: Zanotta

Den Ur-Typus des Bistrotisches griff Castiglioni auf und machte daraus ein Möbelstück, das die Gestalt des Vorbilds auf eine bestechend einfache, ikonenhaft einprägsame Form reduziert. Tatsächlich waren es auch praktische Aspekte, die den Entwurfsprozess prägten. Der Tisch sollte leicht sein, klappbar und flach zu verstauen – da war die Befreiung von Marmor und Gusseisen nur konsequent.
Aus dem Jahr: 1978
Hersteller: Zanotta

Für diese Stehleuchte stand, so schildert es Castiglioni, eine Straßenlaterne Pate. Die Ähnlichkeit beschränkt sich jedoch auf die Grundidee, eine Lichtquelle an einem weit ausladenden Bogen in den Raum zu hängen. Ausführung und Material stellen dagegen ihre Exklusivität offen zur Schau: weißer Carrara-Marmor für den Fuß, verchromter Stahl für den Schaft, polierter Alu-Guss für den Reflektor. Neben der noblen Erscheinung hat jedoch auch der hohe Nutzwert dazu beigetragen, dass "Arco" zu einem vielfach kopierten Statussymbol wurde: Sie vereinigt die Vorteile von Stand- und Hängeleuchte in einer so noch nicht gesehenen Form.
Aus dem Jahr: 1962
Hersteller: Flos

Ein Fahrradsattel auf der Stange, als Fuß eine Halbkugel aus Gusseisen: Auf diesem Hocker – wenn man ihn so nennen mag – soll man nicht ruhen, sondern hellwach bleiben, balancieren und Spaß dabei haben. So wollten es die Castiglioni-Brüder, und anders geht es auch gar nicht. Der Sattel-Hocker, der 1957 gemeinsam mit dem Traktorsitz "Mezzadro" vorgestellt wurde, ist einer der humorvollsten Entwürfe der Mailänder, war als Beitrag zur Sitzkultur aber durchaus ernst gemeint.
Aus dem Jahr: 1957
Hersteller: Zanotta