Es wurde oft gefeiert in der Mailänder Wohnung von Ettore Sottsass im Dezember 1980. Der 63-Jährige, eine der zentralen Figuren der italienischen Designszene, hatte sich gerade von der Radical-Design-Gruppe Alchimia abgewendet. Mit seiner Lebensgefährtin, der Kunstkritikerin Barbara Radice, und einer Gruppe junger Designer diskutierte er Abend für Abend über die ethischen Aufgaben und Möglichkeiten seines Berufsstands. Michele De Lucchi war dabei, Matteo Thun, Aldo Cibic, Andrea Branzi und Nathalie du Pasquier. Gemeinsam waren sie gegen das Funktionalismus-Diktat der Moderne und für eine aufregendere, sinnlichere Sprache im Design; für weniger Sachlichkeit und mehr Emotion.
"Nach den elitären Ansätzen des Radical Design, bei dem es eher um die Entwicklung von Prototypen und Ausstellungen ging, wollte Ettore wieder mit der Industrie zusammenarbeiten", erinnert sich Barbara Radice, "er wollte seine Idee von Design in Möbeln ausdrücken, die in Serie hergestellt werden." Am Abend des 10. Dezember beschlossen die Anwesenden, eine neue Designgruppe zu gründen und ihrer Sammlung an philosophischen Notizen eine Möbelkollektion folgen zu lassen. Im Hintergrund lief Bob Dylans "Stuck Inside Of Mobile (With The Memphis Blues Again)" – und da die Platte einen Kratzer hatte und immer wieder beim Wort "Memphis" hängen blieb, kam Sottsass auf die Idee, die Gruppe "Memphis" zu nennen. Das klang nach Blues und Tennessee, Rock’n’Roll, amerikanischer Vororttristesse und der Hochkultur des alten Ägypten zugleich – und es begeisterte alle.
Geliebt oder verhasst
Ein paar Monate später, im September 1981, hatte Memphis bereits 40 Produkte entwickelt und präsentierte sie der Öffentlichkeit auf einer Ausstellung in Mailand, die gigantische Aufmerksamkeit erzeugte. 2.500 Besucher kamen zur Eröffnung, Journalisten aus aller Welt berichteten, und die Reaktionen schwankten zwischen Euphorie und Entrüstung. Designer der alten Garde taten die Entwürfe als bloßes Modephänomen ab. Puristen wie Jasper Morrison gerieten in eine Art Schockzustand angesichts der schreiend bunten Möbel und Leuchten, die alle Gesetze des guten Geschmacks über Bord warfen. "Es war ein seltsames Gefühl", erinnerte sich der Designer Jahre später, "einerseits war ich angewidert von den Objekten, andererseits empfand ich diesen totalen Tabubruch auch als befreiend."
Emotion statt Funktion
Memphis war vorlaut: Marmor und Edelhölzer wurden mit farbigen Glühbirnen und gemustertem Kunststofflaminat kombiniert, das man von billigen 50er-Jahre-Cafés und Küchentischen kannte. Schränke setzten sich aus geometrischen Formen wie Kugeln, Kuben und Zylindern zusammen. Leuchten sahen aus wie schräge Vögel, und Regale weigerten sich, ihrer Aufgabe, dem Tragen von Büchern, nachzukommen.
"Sottsass’ Entwurf 'Carlton' zum Beispiel ist eigentlich kein Regal, es ist ein Statement zum Thema Regal", erklärt Florian Hufnagl, Direktor der Neuen Sammlung, Internationales Designmuseum in München. "Mit seiner totemhaften Struktur und lauten Farbigkeit sagt es: 'Ich bin das Regal, neben mich sollst du keine anderen Möbel stellen.' Und auch daraufstellen kann man kaum etwas, denn an seinen abgeschrägten Regalbrettern lehnen Bücher so schief, dass sich die Bindung früher oder später löst. Nichts für Bücherliebhaber."
Memphis war politisch, denn es brachte die Leute dazu, über den Status von Materialien nachzudenken. "Ich wollte das Wertesystem hinterfragen", erklärte Sottsass, "eine reiche Frau, die mit Goldschmuck behängt ist, konnte sagen: Ich habe das Beste, denn Gold ist das Beste. Memphis aber sagte: Du hast das Beste, wenn du Plastiklaminat hast!" Memphis definierte Status nicht mehr über konservative Werte wie Funktionalität und Langlebigkeit. Die Kommunikation durch Form, Farbe, Materialität und Muster bedeutete auf einmal mehr als altbewährte Grundsätze. Memphis-Möbel konnte man mögen oder nicht, sie erzeugten auf jeden Fall Emotionen.
Seit Ettore Sottsass mit seiner ersten Ehefrau, der Übersetzerin Fernanda Pivano, in den 50er und 60er Jahren Indien und die USA bereist hatte, waren Pop-Art und Farbe zentrale Themen in seiner Arbeit. Ihn begeisterte das Zusammentreffen von Hochkultur und Werbung in den USA, und er war beeindruckt, wie in Indien selbst die ärmsten Menschen ihre Räume und Gegenstände mit kräftigen Farben ausdrucksstark gestalteten. Durch seine Reisen kam er zu der Überzeugung, dass Design nicht nur funktional sein müsse, sondern auch sinnlich und aufregend. Anfang der 60er Jahre begann er mit der Arbeit an seinen "Totem"-Keramiken und den "Superboxes", jenen mit gestreiftem Plastiklaminat beklebten Kuben.
Ettore Sottsass: "Wenn uns etwas retten wird, dann ist es Schönheit."
Bereits seit 1958 war Sottsass als Berater für Olivetti tätig und verlieh der damals noch durchweg sachlich-grauen Technik eine freundliche Gestalt. Er entwarf den ersten italienischen Computer "Elea 9003" und die legendäre Reiseschreibmaschine "Valentine". Letztere war ursprünglich als preisgünstiges Massenprodukt mit reduzierten Funktionen geplant, aber als Sottsass seinen lippenstiftroten Entwurf mit elegantem Koffer präsentierte, gefiel der Roberto Olivetti so gut, dass er ihn in einem hochwertigen Kunststoff auf den Markt brachte. "Valentine" wurde ein begehrtes Design-Gadget der Kreativen, denn Ettore Sottsass hatte die Schreibmaschine nicht einfach als praktisches technisches Gerät konzipiert, sondern als "eine Freundin, die den Schriftsteller in seinen einsamen Momenten auf dem Land begleitet".
Memphis war die Weiterführung der Idee, Dinge mit Schönheit und Sinnlichkeit zu gestalten, sodass ihre Benutzer eine emotionale Beziehung zu ihnen entwickeln – etwas, das dem modernen Menschen in der Konsumgesellschaft des späten 20. Jahrhunderts aus Sottsass' Sicht weitgehend verloren gegangen war. Ernesto Gismondi, Eigentümer der Leuchtenfirma Artemide, begann, die Entwürfe der Gruppe in Serie zu produzieren – allerdings mit mäßigem Erfolg. Große Stückzahlen verkaufte Memphis nie. Die Entwürfe waren in der Herstellung sehr aufwändig und dadurch teuer. Selbst Ettore Sottsass sagte: "Memphis ist wie eine harte Droge. Ich glaube, niemand kann ausschließlich in Memphis wohnen. Das wäre, als würde man immer nur Kuchen essen." Modedesigner Karl Lagerfeld versuchte es. Er richtete sein Apartment in Monte Carlo in den 80er Jahren komplett mit Memphis ein. 1991 konnte auch er es nicht länger aushalten und ließ das gesamte Mobiliar versteigern.
Was übrig blieb
Trotz des mangelnden wirtschaftlichen Erfolges gilt Memphis als eines der wichtigsten Designphänomene der vergangenen 30 Jahre. Sein Vokabular an Mustern und Farben fand sich bald auch auf Bettwäsche und Turnschuhen, T-Shirts, Werbeplakaten und Geschenkpapier wieder. Memphis brachte Humor, Spaß und Denkanstöße in die Welt der Möbel und der Mode.
Sein Erfinder selbst aber war bald frustriert von der Arbeit der Gruppe und zog sich 1985 zurück. "Es ging ihm wie einem erfolgreichen Serienschauspieler, der immer nur für dieselbe Rolle gebucht wird", sagt Alberto Bianchi Albrici, der die Firma Memphis von Gismondi übernahm und bis heute betreibt. "Sottsass wollte zeigen, dass er mehr war als nur Mr Memphis."
Vier Jahre nach seinem Ausstieg löste sich die Gruppe auf, Ettore Sottsass konzentrierte sich auf das, was er liebte: die Fotografie, das Zeichnen, die Keramik. Er lebte abwechselnd in Mailand und in seinem Haus auf der Äolischen Insel Filicudi und bereiste die ganze Welt. Auf Reisen schrieb er über Architektur und Licht, Küchen und Kultur, Natur und Metropolen. Er fotografierte alles: von Hotelzimmern, in denen er mit Frauen geschlafen hatte, bis zu Mauern in aller Welt, denn Mauern erzählen die Kulturgeschichte des Planeten.
Sottsass' Rückbesinnung
In den 80er Jahren kehrte Ettore Sottsass wieder zu der Disziplin zurück, in der er 1939 an der Universität von Turin seinen Abschluss gemacht hatte: der Architektur. Mit seinem Designbüro Sottsass Associati gestaltete er Showrooms für das Modelabel Esprit, Flughäfen, Golfplätze und Privathäuser. Vorherbestimmt war ihm die Architektur ohnehin – angeblich hatte sein Vater, ein bekannter ladinischer Architekt, dem kleinen Ettore kurz nach der Geburt in Innsbruck bereits einen Bleistift in die Hand gegeben.
Eines der schönsten Gebäude, die Sottsass gebaut hat, entstand im Auftrag des amerikanischen Kunsthändlers Daniel Wolf. Dessen Briefing lautete: "Bauen Sie mir ein Haus. Ganz gleich, wie es aussieht, es soll nur das schönste sein." Sottsass baute ihm ein Haus in Colorado, das die Memphis-Sprache spricht – mit Primärfarben und auffälligen Geometrien –, dabei aber ganz klassisch proportioniert ist. Es fügt sich harmonisch in die Landschaft und bietet Blickachsen auf die Rocky Mountains – eine perfekte Bühne für die Emotionen des Alltags.
Ettore Sottsass starb in der Silvesternacht 2007 neunzigjährig in seinem Apartment in Mailand.
Autorin: Dorothea Sundergeld
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Diese Pfeffermühle kam auf den Markt, als sich die von Sottsass mitgegründete Memphis-Bewegung bereits aufgelöst hatte. Mit ihren geometrischen Formen, die an hölzerne Bauklötze erinnern, und den kräftigen Farben führt sie dennoch wichtige Merkmale des Memphis-Designs fort – mit einem Unterschied: Während Sottsass' frühere Möbelentwürfe mit ihrer schreiend bunten Extravaganz oft wie fürs Museum geschaffen schienen, war diese kleine Pfeffermühle ein alltagstaugliches Produkt für jedermann.
Aus dem Jahr: 1989
Hersteller: Alessi

Aus dem Jahr: 2005
Hersteller: B&B Italia Store München

Mit ihren geometrischen Formen, den kräftigen Primärfarben und der einfachen, aber erst auf den zweiten Blick als Leuchte zu entschlüsselnden Gestalt steht "Callimaco" für eine verbreitete Haltung im italienischen Design der 80er Jahre. Als Begründer der buntverspielten Memphis-Bewegung trieb Sottsass die Postmoderne im Möbeldesign auf die Spitze – im Vergleich zu einigen seiner extravaganten, nicht immer praxistauglichen Entwürfe nimmt sich diese Stehleuchte jedoch geradezu dezent aus. Typisch Sottsass ist der Handgriff auf halber Höhe: witzig und dabei durchaus praktisch.
Aus dem Jahr: 1982
Hersteller: Artemide